A Stoner’s Thought: Vom Ende der Ikonografie

Wie KI unsere gemeinsame mediale Wahrnehmung verändern wird

Das letzte Jahr hat die IT ordentlich durchgeschüttelt. Zwar kam das Thema künstliche Intelligenz nicht von ungefähr, aber dass es so eine Breitenwirkung entwickeln würde, hätten wohl die wenigsten erwartet. Dabei teilt sich die Gesellschaft sehr grob gesagt in zwei Lager: die einen, die das mehr oder weniger begeistert aufnehmen oder zumindest wahrnehmen. Und die anderen, die davon in den Tagesthemen darüber gehört haben, aber eher mit Unverständnis reagieren. Das beobachte ich auch im Freundeskreis. Da gibt es diejenigen, die das freudig nutzen oder nach einem Crash-Kurs für sich entdecken; dann sind da diejenigen, die es frustriert ablehnen; und schließlich diejenigen, die mit den Schultern zucken. Allen gemeinsam ist aber der Umstand, dass diese Technologie ihr Leben in den nächsten Jahren fundamental beeinflussen wird.

In diesem Beitrag lasse ich meine Gedanken mal schweifen, welche Szenarien insgesamt möglich sein könnten, wie die KI unsere Gesellschaft beeinflussen wird. Das ist keine exakte Wissenschaft. Das sind einfache Überlegungen, die genauso eintreten, wie sie ausbleiben könnten. Was im englischen Sprachraum als “stoner’s thought” bekannt ist, ist hier das Setting. Man darf es nicht zu ernst nehmen, aber es lohnt darüber nachzudenken, so abwegig, wie das auch scheinen mag.

Ich glaube nur, was ich sehen kann

Gehen wir davon aus, dass in naher Zukunft nicht nur ChatGPT bereitwillig Texte liefert, sondern die volle Bandbreite an medialen Inhalten damit erstellt werden kann. Das ganze Thema Deepfakes von Bildern, Tönen oder Videos was in den letzten Monaten immer mal wieder auftauchte, ist da nur ein kleiner Vorgeschmack. Je preiswerter Rechenleistung wird, desto mehr Möglichkeiten bieten sich. Benötigt man für einen guten Deepfake bislang noch immense Rechenkapazitäten und entsprechendes Kleingeld, wird das in Zukunft immer einfacher, schneller und besser werden.

Über die Gefahren von gezielten Fehlinformationen und Manipulationen in der Politik will ich hier nicht schreiben. Das ist zu offensichtlich, weil in einigen Fällen bereits traurige Realität und eigentlich ein uraltes Geschäft. Die Retusche von unliebsamen Gegnern ist so alt wie die Fotografie selbst. Das “Ausradieren” von Leo Trotzki durch Stalin ist hier nur ein Beispiel. Mir geht es um etwas viel grundsätzlicheres.

Wir Menschen benötigen in unserem Leben Wahrheiten und Gewissheiten. Diese geben uns Halt. Gesellschaften basieren auf einer Reihe von meist ikonischen Referenzen. Das definiert zwar noch nicht das Selbstverständnis einer Gesellschaft, aber es gehört zum Grundstock einer Identität. Alle vor 1989 in Deutschland aufgewachsenen Menschen, die zu diesem Zeitpunkt nicht gerade noch Kinder waren, kennen die Bilder vom Fall der Berliner Mauer. Tausendmal gesehen wird das sofort mit Erinnerungen assoziiert. Was aber, wenn man sich nicht mehr sicher sein kann, dass das wirklich so passiert ist, weil so ein Ergebnis jederzeit und mit Leichtigkeit manipuliert werden kann?

Etwas trivialer, aber mit nicht weniger Einfluss: das gleiche gilt für Videos. Tendenziell könnten in Zukunft Filme von Nutzern selbst erstellt werden. Streaming Anbieter liefern die KI-Umgebung und vielleicht ein Set an bekannten Schauspieler-Avataren. Die KI errechnet dann auf Kundenwunsch einen neuen Film. Wollten Sie schon immer mal den jungen Sean Connery als James Bond und Bruce Willis als John McClane im Smoking in “Titanic: Burning Iceberg” sehen?

Was wäre der mittelbare Einfluss? Nun, Kinos wären ein für alle Mal tot. Die Zeit einer linearen Kommunikation mit einer einzigen Erzählung endet und schafft Platz für multi-angulare Geschichten. Schauspieler der alten Garde werden ähnlich wie Musiker heute per Stream vergütet werden (bye, bye Millionengage) und die Anbieter schaffen entweder völlig neue synthetische Avatare oder überlassen dem User die Erstellung gleich direkt. Für die Fantasievollen unter uns eine neue Spielwiese. Und für die Fantasielosen bieten die Anbieter die Werke anderer Nutzer zum Download an.
Doch auch hier werden das gemeinsame Erlebnisse und die ikonografischen Wirkungen in Zukunft fehlen. Tauschte man sich bisher über cineastische Meisterwerke aus, wird es in Zukunft keine gemeinsamen Filme mehr geben. Nur eine Handvoll von Menschen haben dann vielleicht Charlie Chaplin in “Star Wars: Episode 357” gesehen.

Der Fluch der Beliebigkeit

Diese fehlenden ikonografischen Wirkmechanismen könnten schließlich zu zwei Phänomenen führen: Orientierungslosigkeit und einer damit verbundenen Suche nach einer Wahrheit. Anstatt also in einem Meer der Beliebigkeit zu ertrinken, suchen Menschen nach einem Halt.

In der Vergangenheit bildeten entweder Religion oder Staat einen Felsen in der Brandung des Lebens. Nur sie besaßen eine Deutungshoheit, die zwar gelegentlich in Frage gestellt, aber in den allermeisten Fällen akzeptiert wurde. Begründet wurde dieser Machtanspruch durch Traditionen, aber häufiger noch durch Gewalt. Der Mensch fügte sich dem System, wurde bei Verstößen sanktioniert, hatte aber im Gegenzug die Gewissheit einer Wahrheit. Der Großteil musste sich keine Fragen über das wie und warum machen und war frei von ihn überfordernden existentiellen Fragestellung. Leben nach dem Tod. Freund oder Feind. Zugegeben, das mag etwas einfach in der Argumentation sein, aber dennoch streben wir Menschen nach Verlässlichkeit und einfachen Antworten.

Doch wer füllt diese Lücke der schwammigen Beliebigkeit? Werden sich Menschen freiwillig einem Dogma unterordnen, weil sie einfach eine allgemein anerkannte Wahrheit wollen? Wird die KI-Technologie aufgrund dieser diffusen Allgemeinplätze abgelehnt? Besteht die Gefahr einer KI vielleicht nicht in ihrer Überlegenheit, sondern in ihrer Unbestimmtheit?